Dr. Agnieszka Zagańczyk-Neufeld – Habilitationsprojekt
Sekten im Russländischen Imperium 1800-1917. Eine Sozialgeschichte der Glaubensfreiheit
Stichworte wie Glaubensfreiheit oder religiöser Pluralismus werden nicht unbedingt mit Russland konnotiert. Anders als der westeuropäische und US-amerikanische religiöse Dissens blieben emanzipatorische Praktiken religiöser Dissidenten in Russland von der Forschung allzu häufig unbeachtet. Dabei machten religiöse Abweichler am Ende des 19. Jahrhunderts schätzungsweise zehn Prozent der Bevölkerung des Russländischen Imperiums aus. Das Projekt hat das Ziel, die Geschichte der bäuerlichen religiösen Sekten im Russländischen Imperium in den Jahren 1800-1917 im Hinblick auf ihre elementare Bedeutung für das Verständnis und die Umsetzungsversuche der Glaubensfreiheit im autokratischen Zarenreich zu untersuchen. Da die Sektierer kaum Schriften oder eigene Dogmatik hinterlassen haben, widmet sich das Projekt ihren religiös motivierten sozialen Praktiken, die auf fünf Handlungsebenen analysiert werden: Flucht und Migration, Körperpraktiken, Wirtschaftspraktiken, Kriegsdienstverweigerung, und gesellschaftsstabilisierende Normbildung. Die Untersuchung dient nicht nur der ersten modernen Geschichte der religiösen Abweichung in Russland. Sie gibt auch Aufschluss über gesellschaftliche Emanzipations- und Pluralisierungsprozesse im Russländischen Imperium, die mit dem Revolutionsjahr 1917 brutal unterbrochen wurden. Die praxeologische Vorgehensweise erlaubt, sich dem Begriff der Freiheit in Russland aus sozialgeschichtlicher Perspektive zu nähern, und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu der immer noch defizitären Forschung zur Freiheitsgeschichte in Russland.
Projektbezogene Publikationen:
- Andersdenken in Russland. Ein interdisziplinärer Beitrag zur Relevanz von inakomyslie. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3/2018, S. 383-390
- Religiöse Sekten als abweichende Gemeinschaften – die Chlysty in Russland bis 1905. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3/2018, S. 391-417
- Russische Sekten – Stand und Perspektiven der Forschung. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1/2021, S. 102-125
- Everyday Apocalypse: Russian and Jewish ‘Sects’ at the End of the 18th Century. In: Apocalypse Now. Connected Histories of Eschatological Movements from Moscow to Cusco, 15th-18th Centuries. Edited by Damien Tricoire and Lionel Laborie. London/New York 2023, S. 199-222
- Call for Articles für ein Themenheft in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung (ZfO): Häresie, Nonkonformität, Dissidententum? Religiös motivierte Abweichung in Osteuropa im „langen“ 19. Jahrhundert (veröffentlicht im Februar 2022)
- Videomitschnitt über das Projekt in der Mediathek des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald (veröffentlicht im April 2022)
Projektbezogene Aktivitäten:
- März – September 2021: Forschungsstipendium der DFG
- Oktober 2021 – September 2022: Junior Fellowship am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald
Sects in Russian Empire 1800-1917: A Social History of the Freedom of Faith
Keywords such as freedom of belief or religious pluralism are not necessarily connoted with Russia. Unlike Western European and U.S. religious dissent, emancipatory practices of religious dissidents in Russia have too often gone unnoticed by researchers. Yet religious dissenters made up an estimated ten percent of Russia’s population at the end of the 19th century. This project aims to examine the history of peasant religious sects in Russia in the years 1800-1917 in terms of their elemental importance to the understanding and attempted implementation of religious freedom in the autocratic tsarist empire. Since the sectarians in Russia left hardly any writings or dogmatics of their own, the project is devoted to their religiously motivated social practices, which are analyzed on five levels of action: Flight and migration, bodily practices, economic practices, conscientious objection, and society-stabilizing norm-building. The study not only serves as the first modern history of religious deviance in Russia. It also sheds light on social emancipation and pluralization processes in the Russian Empire, which were brutally interrupted with the revolutionary year of 1917. The praxeological approach allows to study the concept of freedom in Russia from a socio-historical perspective and thus makes an important contribution to the still deficient research on the history of freedom in Russia.